"Das waren Menschen, keine Nummern"
Sonntag, 13.05.2018
Die Zeit des Nationalsozialismus ist nicht nur ein Thema für den Geschichts- oder Politikunterricht, meint die Pfarrerin und Religionslehrerin Annette Vetter. Ihr Projekt "Werteerziehung nach Auschwitz" funktioniert deshalb fächerübergreifend.
Kern ist eine Schülerfahrt nach Auschwitz, die sie vor 15 Jahren das erste Mal an ihrem Krefelder Gymnasium angeboten hat. Damals fuhren 13 Schülerinnen und Schüler mit, aktuell haben sich 80 freiwillig dazu angemeldet – zwei Drittel der Jahrgangsstufe. Die Vorbereitung auf die Fahrt dauert fast ein Jahr. In dieser Zeit erkunden die Jugendlichen u.a., wie das jüdische Leben in Krefeld vor und während der NS-Zeit aussah und wie es heute darum bestellt ist. Außerdem sprechen sie mit Zeitzeugen und entdecken, wie und wo Antisemitismus zum Beispiel im Internet verbreitet wird.
Zahlreiche Lehrkräfte aus dem Kollegium sind in das Projekt eingebunden und unterstützen es aktiv – unter anderem durch Workshop-Angebote. Ziel ist es – so Pfarrerin Annette Vetter – "junge Menschen darin zu unterstützen und zu schulen, ihr eigenes Bild von Welt und von Menschen zu entwickeln." Die Herrschaft der Nationalsozialisten bezeichnet sie als "den absoluten Tiefpunkt von Werteverfall" und als eine Zeit, "in der Menschen Gehorsam höher gestellt haben als eigene Denkfähigkeit und eigene Entscheidungsfähigkeit."
Tief beeindruckt kehren die Schülerinnen und Schüler von ihrer Fahrt nach Auschwitz zurück. Antonia erzählt im Interview: "Mir ist einfach nochmal klar geworden, dass wirklich hinter jedem dieser Leute, die dort gestorben sind, wirklich ein Leben stand und die alle Familien hatten und das wirklich einzelne Charaktere waren - was einem einfach gar nicht so klar ist, wenn man einfach nur diese Zahl hört – diese enorme Zahl an Toten." Selbst vor Ort gewesen zu sein und die Barracken im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im Original gesehen zu haben, hat auch Jana sehr beeindruckt. Und Luca ergänzt: "Ich fand das ziemlich emotional zu sehen, welche Ausmaße das hatte. Und angesichts der heutigen politischen Entwicklung in Deutschland find ich´s halt besonders wichtig, dass es halt nicht in Vergessenheit gerät."
Nach jeder Fahrt präsentieren die Jugendlichen, was sie gelernt und erlebt haben. In diesem Jahr entstand daraus eine Ausstellung mit Karten, Fotos und Gedichten. Antonia hat ihre Eindrücke in einem Poetry Slam verarbeitet. Darin heißt es unter anderem: "Eine Gruppe wertet sich auf, versucht sich groß zu machen und: Tötet! Weißt Du eigentlich, was das bedeutet? T-O-D. Einfach tot. (…) Ich sitze hier an diesem gruselig-ruhigen Ort und kann es nicht fassen. Ich stelle Dir nicht die Frage "Was hättest Du getan?" sondern: Was tust Du heute?"
Das Magazin "Stern" veröffentlichte im Januar 2012 eine Umfrage. Demnach gibt es insbesondere bei den unter 30jährigen erhebliche Wissenslücken: Laut des Forsa-Instituts konnten 21 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff Auschwitz nichts anfangen. Das Ergebnis zeigt, wie wichtig Information und Erinnerungsarbeit vor allem in der jungen Generation ist, damit der Holocaust nicht in Vergessenheit gerät.
In der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 6. Mai 2018: "Wir dürfen Antisemitismus, da wo er öffentlich auftritt, keinen Raum lassen." Nicht nur Institutionen oder öffentliche Einrichtungen müssten entsprechend Stellung beziehen. Vielmehr sei es eine Aufgabe aller, sich dem Antisemitismus mutig in den Weg zu stellen. "Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass Synagogen in Deutschland immer noch von der Polizei beschützt werden müssen. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass es Antisemitismus von denjenigen gibt, die seit Generationen hier wohnen und Zuwanderern, die ihn mitbringen", so Steinmeier weiter. "Antisemitismus zerstört am Ende Heimat für alle."
Die Internetseite http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de informiert ausführlich über den Aufstieg Hitlers und seines Nationalsozialismus sowie über den Holocaust. Für die Überlebenden des KZ Auschwitz endete er am 27. Januar 1945. Kurz nach Mittag erreichten damals Einheiten der 1.Ukrainischen Front auf ihrem Vormarsch nach Westen das Gelände des Konzentrationslagers. Dort bot sich den Soldaten ein Bild des Grauens. Die Leichen von etwa 650 der zuletzt umgekommenen Lagerinsassen lagen unbestattet auf dem gefrorenen Boden, 7.600 Menschen, die meisten bis zum Skelett abgemagert und dem Hungertod nahe, wurden lebend geborgen.
Schon im November 1944 hatte der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, die Räumung des Lagers angeordnet. Am 18. und 19. Januar 1945 waren schließlich 98.000 der letzten Häftlinge in langen Kolonnen von bis zu 2.500 Personen bei den so genannten "Todesmärschen" aus dem Lager fortgeschafft worden. Am 25.Januar wurden zum letzten Mal Juden in Auschwitz erschossen - insgesamt 350 Männer und Frauen, die zu schwach für den Marsch waren. Anschließend verließen die letzten SS-Trupps das Lager, nachdem sie zuvor die fünfte und letzte Gaskammer des KZs gesprengt hatte. Zurück ließen sie über 8.000 Häftlinge, von denen über 600 noch vor der Ankunft der Sowjets zwei Tage später an Entkräftung, Kälte oder Unterernährung starben.
Seit 1996 ist der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, in der Bundesrepublik Deutschland offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Flaggen an öffentlichen Gebäuden wehen auf Halbmast, in vielen Städten finden Gedenkveranstaltungen statt, und auch im Bundestag findet alljährlich am 27. Januar eine Gedenkstunde statt. Seit der Übernahme des Datums durch die UN im Jahr 2005 ist der 27. Januar auch international ein Gedenktag.