„Krisenkompass“: App zur Suizid-Prävention
Sonntag, 09.06.2024
Pro Jahr nehmen sich bundesweit etwa 10.000 Menschen das Leben, und etwa zehn Mal höher ist Schätzungen zufolge die Zahl der Selbstmordversuche. Der „Krisenkompass“ - eine Handy-App der Telefonseelsorge - soll helfen, diese Zahlen zu verringern.
Die App steht seit März 2020 kostenlos im Apple App Store (für iOS- Smartphones) und bei Google Play (für Android-Smartphones) bereit. Sie richtet sich sowohl an Menschen, die suizidgefährdet sind, als auch an Menschen aus deren Umfeld, die eingreifen und helfen möchten. Zugleich bietet sie auch Hinterbliebenen Hilfe bei der Bewältigung ihres Verlusts. Die Telefonseelsorge schreibt über die Krisenkompass-App:
„Der KrisenKompass ist eine App, die dank ihrer Funktionsweise eine Art Notfallkoffer für Krisensituationen ist. Mit verschiedenen Funktionsweisen wie Tagebuchfunktion und persönlichen Archiven, um positive Gedanken oder beispielsweise Fotos, Erinnerungen oder Lieder zu speichern, kann ein ganz persönliches Rüstzeug für schlechte Momente gepackt werden. Darüber hinaus gibt es Materialien, die in Krisensituationen hilfreich sind, Hinweise zu beruhigenden Techniken, sowie direkte Kontaktmöglichkeiten zur TelefonSeelsorge® und anderen professionellen Anlaufstellen. Das Angebot des KrisenKompasses ist als App jederzeit in Griffweite auf dem Handy und damit immer dabei, wenn es nötig wird. Der KrisenKompass funktioniert sowohl online als auch offline.“
Wenn es um die Beratung für suizidgefährdete Menschen und auch deren Angehörige geht, gehört die Telefonseelsorge zu den wichtigsten Säulen dieser Arbeit: Rund 8.000 Ehrenamtliche an über 100 Standorten in ganz Deutschland sind rund um die Uhr erreichbar und führen jedes Jahr über eine Million Gespräche. Daneben hat die TelefonSeelsorge im Jahr 1995 mit der Beratung per E-Mail begonnen. Inzwischen kann man auch per Chat über seine Probleme „reden“.
Wie eine Statistik der Telefonseelsorge für das Jahr 2022 zeigt, suchen eher Frauen (67,58%) als Männer (31,57%) den Kontakt. Ältere Menschen bevorzugen dabei den Weg über das Telefon (55% der Anrufer sind älter als 50 Jahre), während bei den Jüngeren die modernen Kommunikationswege überwiegen: Über 62% der 20- bis 49Jährigen entscheiden sich für Mail oder Chat. Noch mehr Zahlen gibt es unter https://www.telefonseelsorge.de/unsere-statistiken/
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat errechnet, "dass von jedem Selbstmord oder Selbstmordversuch noch insgesamt sechs weitere Menschen wie Angehörige oder Freunde betroffen sind." Weiter heißt es: "Die Ursachen, warum Menschen den Freitod wählen, sind vielfältig und komplex. Gefühle der Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit und Perspektivlosigkeit, Traumatisierungen, Konflikte in Beziehungen, psychische oder physische Erkrankungen, Depressionen, gesellschaftlicher Druck oder Kurzschlussreaktionen - das sind Gründe, die zu einem Selbstmord führen können."
Viele der genannten Empfindungen geben zugleich die Motive wieder, warum sich Menschen Rat und Hilfe suchend an die Telefonseelsorge wenden, ohne dabei gleich Selbsttötungsabsichten zu haben. Dennoch sind Selbstmord-Anrufe nicht so selten, wie es die Statistik vermuten lassen könnte, heißt es dazu in einem Handbuch der Telefonseelsorge zur Suizidprävention von 2009: "Selten sind Menschen klar und präzise in der Angabe von Suizidabsichten. Wenn sie es sind, dann ist der Gedanke meist kein Gedanke mehr, sondern ein handfester, wohlüberlegter Plan, zu dessen Umsetzung die Mittel schon bereitliegen. In der «Reifungsphase» dieses Plans sind Worte umschreibend, metaphernhaft, leicht zu überhören oder falsch zu deuten. Und eben in dieser Kunst sind die Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge zu schulen: Das Ungesagte oder die Metapher zu hören und offen zu bleiben für die Berührung mit Verzweiflung und Todeswünschen."
Ihren Ursprung hat die Telefonseelsorge in Großbritannien. 1953 veröffentlichte der Anglikanerpater Chad Varah in London eine Telefonnummer, unter der man ihn bei Selbstmordabsichten anrufen sollte. Er hatte als erster die Gelegenheit, die Arbeit kontinuierlich fortzuführen, gründete später die nationale Organisation "The Samaritans" und schließlich auch einen ersten internationalen Verband. 1956 entstand die erste Telefonseelsorge in Deutschland.
Der Berliner Arzt und Pfarrer Klaus Thomas veröffentlichte am 5. Oktober 1956 eine private Telefonnummer für die "Ärztliche Lebensmüdenbetreuung"; das Wort Telefonseelsorge war da noch nicht geboren. Heute ist die Telefonseelsorge bundesweit in 104 Städten vertreten. Die rund 200 hauptamtlich und 8.000 ehrenamtlich Mitarbeitenden sind ansprechbar für Krisensituationen jeglicher Art - sei es Trauer, Einsamkeit, Gewalterfahrung, Sucht oder Partnerschaftskonflikte. Mehr Infos und die Möglichkeit von Seelsorge per Internet und e-mail bietet http://www.telefonseelsorge.de/ Hier findet man auch eine Adressenliste aller Stellen, falls man sich für eine Mitarbeit bei der Telefonseelsorge interessiert.
Die Telefonseelsorge – getragen von evangelischer und katholischer Kirche – ist rund um die Uhr und 365 Tage im Jahr kostenlos erreichbar unter den Nummern 0800-1110111 oder 0800-1110222. Anrufen kann jeder, der ein Problem hat – Religionszugehörigkeit spielt keine Rolle. Auf Wunsch kann das Gespräch völlig anonym laufen, es ist und bleibt in jedem Fall vertraulich und gebührenfrei. Auch auf der Telefonrechnung taucht ein Anruf bei der Telefonseelsorge nicht auf.