75 Jahre Kriegsende: Friede als Pflicht
Sonntag, 10.05.2020
Der zentrale Staatsakt zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Berlin abgesagt. Ist es vielleicht sogar Zeit, einen Schlussstrich ziehen? Bischof Franz-Josef Overbeck, Militärbischof und Vize-Präsident der COMECE, sieht das eindeutig anders.
INFO: Der 8. Mai 1945 markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. In vielfacher Weise erinnerte man in diesem Jahr an die grausamen Verbrechen, an den Tod von 60 Millionen Menschen, die Ermordung von mehr als sechs Millionen europäischen Juden, an den Mord an Menschen mit Behinderung und politisch Andersdenkenden. Am 7. Mai 1945 unterzeichnete die deutsche Wehrmacht im alliierten Hauptquartier in Reims die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs. Sie trat am 8. Mai um 23 Uhr in Kraft - die oft so genannte „Stunde Null“ nach den jahrelangen verheerenden Luftangriffen, besonders in den letzten Kriegsmonaten, nach all den grausamen Verbrechen. 14 Millionen Deutsche suchten nach dem Krieg eine neue Heimat, 17 Millionen blieben verschollen, große Teile Europas waren zerstört. Immer wieder ist das Datum ein Markstein: Vor 65 Jahren, am 8. Mai 1955, erhielt die Bundesrepublik mit Inkrafttreten der Pariser Verträge ihre Souveränität, sie trat der Westeuropäischen Union und ein Tag später der NATO bei. Am 8. Mai 1985 hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine vielbeachtete Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Bonn.
In diesem Jahr wurde der Staatsakt mit einer Rede des Bundespräsidenten am 19. März abgesagt - das gab es bislang noch nie: Am 8. Mai sollte nach einem ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom im Rahmen des Staatsakts mit allen Verfassungsorganen und vielen Gästen aus dem Ausland auf dem Platz der Republik in Berlin des Endes des Weltkriegs und der Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Alliierten 1945 gedacht werden. In Berlin, wo der Tag zum Feiertag erklärt wurde, erinnert ein virtuelles Ausstellungsprojekt an das Ende des Zweiten Weltkriegs. „Nach Berlin“ heißt die Schau, die unter www.75jahrekriegsende.berlin die letzten Kriegstage im Mai 1945 virtuell erzählt.
„Es war ein Tag der Befreiung“, unterstreicht Bischof Franz-Josef Overbeck von Essen, katholischer Militärbischof und Vize-Präsident der COMECE: „Die ganze Entwicklung die Europa genommen hat, hängt wesentlich mit den Erfahrungen des zweiten Weltkriegs, den Zerstörungen und auch den Herausforderung zusammen, die damit verbunden waren.“ Friede habe viel mit Verständigung, Gerechtigkeit und Ausgleich, aber eben auch mit Wohlfahrt und Rechtsstaatlichkeit zu tun, so Overbeck - eine Perspektive, die zum Gedenken an das Kriegsende vor 75 Jahren gehöre: „Europa selbst ist ein Friedensprojekt und genau das zeigt sich an einem solchen Tag wie dem 8. Mai noch einmal deutlich.“ Forderungen nach einem „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus erteilt er eine klare Absage: „Es gibt keinen Schlussstrich unter die Geschichte - erst recht keinen Schlussstrich unter eine so immense Schuld-Geschichte mit so grauenhaften Taten, die bis in das heute nachwirken. Es ist eine Aufforderung, für Versöhnung zu wirken und für Frieden. Es ist eine Aufforderung, das Wort, das einmal Papst Paul VI. vor der UN formuliert hat immer wieder neu umzusetzen: „Nie wieder Krieg“. Der konkrete Auftrag für die Kirche und für die gesamte Gesellschaft ergebe sich aus dem im Grundgesetz festgeschrieben Wort: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so Overbeck. „Dem können wir Christen uns anschließen. Die Würde kommt, so sagen wir, von Gott. Und sie gilt für jeden Menschen“, erklärte er mit Blick auf neue Nationalismen, Antisemitismus und den Umgang mit Geflüchteten.
Unser Gesprächspartner: Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck, geboren 1964 in Marl, ist seit 2009 Bischof von Essen. Nach dem Theologiestudium an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Rom wurde er am 10. Oktober 1989 durch Joseph Kardinal Ratzinger zum Priester geweiht, war Kaplan in Haltern und Domvikar am St. Paulus-Dom in Münster. Im Anschluss an die Promotion zum Dr. theol. übernahm er im Jahr 2000 die Leitung des Instituts für Diakonat und pastorale Dienste im Bistum Münster, war Bischöflicher Beauftragter für den Ständigen Diakonat im Bistum Münster und Heimleiter im Deutschen Studentenheim. 2007 wurde er zum Weihbischof in Münster ernannt, residierender Domkapitular und Regionalbischof der Region Münster-Warendorf. Nach dem Tod von Bischof Dr. Reinhard Lettmann war er bis 2009 Diözesanadministrator des Bistums und wurde am 20. Dezember 2009 als vierter Bischof von Essen eingeführt. Seit 2010 ist Bischof Dr. Overbeck als Vorsitzender der Bischöflichen Kommission Adveniat verantwortlich für das katholische Lateinamerika-Hilfswerk der Deutschen Bischofskonferenz und Mitglied der Päpstlichen Kommission für Lateinamerika, seit 2011 Katholischer Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr und seit 2014 Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz. Als Delegierter der deutschen Bischöfe in der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE) ist er seit 2018 tätig und gewählter Vizepräsident. Kontakt: Sekretariat Bischof Overbeck, Burgplatz 2, 45127 Essen, Tel. 0201 / 2204-201; Internet: www.bistum-essen.de.
Erklärung der katholischen Bischöfe zum Zweitem Weltkrieg: 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzten sich die katholischen Bischöfe Deutschlands in einer gemeinsamen Erklärung kritisch mit dem Verhalten ihrer Vorgänger auseinander. Die Nachgeborenen müssten sich der Geschichte stellen, „um aus ihr zu lernen für Gegenwart und Zukunft“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing am 29. April 2020. Er stellte das 23-seitige Papier gemeinsam mit dem Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer, Vorsitzender der Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden), und dem Historiker Christoph Kösters vor, der an den Arbeiten beteiligt war. Bereits im Frühjahr 1995 hatten die katholischen Bischöfe ein Wort zum 50. Jahrestag des Kriegsendes veröffentlicht und das Ereignis als „Befreiung von einem verbrecherischen Regime“ bezeichnet. Auch in einer gemeinsamen Erklärung riefen die Kirchen in Deutschland damals dazu auf, sich der Vergangenheit zu stellen. Ende Januar 2020 erinnerten Kardinal Reinhard Marx und der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm an den 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.
Download: Deutsche Bischöfe im Weltkrieg. Wort zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren