Buchtipp: "Nicht heulen, sondern handeln!"
Sonntag, 14.07.2019
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Reformation gehört, dass jeder Mensch eine persönliche Beziehung zu Gott aufbauen kann. Dazu braucht er keinen Priester als "Vermittler". Und dazu braucht er auch keinen Gottesdienst, sagt der Buchautor Erik Flügge.
In seinem im April 2019 erschienenen Buch "Nicht heulen, sondern handeln" beschreibt der 33Jährige den evangelischen Gottesdienst als Mischung aus "Grundschuldidaktik und einer Vorlesung an der Universität". Diese Mixtur gehe auf Martin Luther, den Gründervater der protestantischen Kirche, zurück. Der sei studierter Theologe gewesen und habe im Gottesdienst regelrecht über die Bibel doziert, seine Zuhörer belehrt und sie zum selbständigen Denken ermutigt. So werde heute noch an jeder Uni verfahren. Damit das Gesagte besser haften blieb, habe Luther es in Liedertexte gegossen und seine Gemeinde singen lassen – ein bewährtes pädagogisches Rezept.
Dieses Konzept, an dem die meisten Gemeinden immer noch festhielten, sei heute völlig überholt, meint Flügge und schreibt in seinem Buch: "Der protestantische Gottesdienst ist eine Behelfskonstruktion der Instruktion – mit dem Ziel, dass der Mensch seine eigene Mündigkeit erreicht. Ein Glaubenskurs, der den Gläubigen die Erwartung abtrainieren soll, dass es einen Priester braucht, der die Wahrheit spricht, statt selbst eine eigene Beziehung zur allerhöchsten Göttlichkeit zu pflegen. Es ist beinahe vollbracht! Das Priestertum aller Gläubigen ist beinahe da. Fast jede Protestantin und fast jeder Protestant braucht heute die Belehrung durch die Pfarrerinnen und Pfarrer nicht mehr, um eine eigene Spiritualität zu entwickeln. Nur drei Prozent der Protestanten sitzen noch da und hoffen, dass ein anderer etwas in der Predigt erklärt, statt selbst zu denken."
Tatsächlich machen die regelmäßigen Gottesdienstbesucher nur noch einen Bruchteil der evangelischen Christen aus. 97% sparen sich am Sonntag den Gang zur Kirche und schlafen aus. Für Erik Flügge völlig nachvollziehbar: Denn die Kirche rede viel zu wenig über das Eigentliche, sagt er: "Ich glaube der Kern einer christlichen Kirche ist der Glaube daran, dass Einer von den Toten auferstanden ist und dass sich darin eine Hoffnung begründet. Man kann noch so viel über Ethik und Werte und fairen Handel und all diese Dinge, die ich wirklich wichtig finde, reden – aber die Frage, die der Protestantismus klären muss ist: ist: Was glauben wir?"
Auch die Fokussierung auf die Kirchen und Gemeindehäuser und die damit verbundene "Komm-Struktur" müsste aus Flügges Sicht geändert werden: "Alles dreht sich um das Prinzip »Wir machen Angebote und da könnt Ihr ja kommen«. Wäre es nicht klüger zu sagen: Lasst uns miteinander zu den anderen hingehen, den Kontakt aufnehmen, mal an der Haustür klingeln, sich mal vorstellen, Hallo sagen, den Gottesdienst zum Sportfest verlegen, statt die Leute vom Sportfest in die Kirche einzuladen – die allerwenigsten überschreiten diese Schwelle."
In seinem Buch "Nicht heulen, sondern handeln" spart Flügge nicht mit Kritik. Er versucht aber auch genauso emphatisch, den Verantwortlichen in den Gemeinden Mut zu machen: "Der Mensch hat seinen Weg gefunden, über die Lehre von der Kanzel herab hinaus, sich selbst in Beziehung zu Gott zu setzen. Das ist ein unumstößlicher Erfolg von fünfhundert Jahren protestantischer Ermächtigung des Einzelnen durch Bildung. Jetzt, da dies vollbracht ist, sollte es die Kirche, die es möglich machte, nicht mit Trauer füllen. Beklagen Sie nicht, dass Ihre Gottesdienste nicht mehr gefragt sind, sondern erweisen Sie Gott dadurch Ihren Dienst, dass sie ein Raum werden, in dem man die Göttlichkeit auch ganz alleine finden kann. Reißen Sie die Türen Ihrer Kirche auf, wenn drinnen jemand einfach Orgel spielt. Lassen Sie Ihre Chöre erschallen auch außerhalb von jeder gesetzten Form. Tragen Sie Ihre Kunst in den öffentlichen Raum. Geben Sie unserer Welt mehr frei spielende Inspiration statt einer gesetzten Form. Und im Lauf der Zeit werden Menschen zu Ihnen kommen und Sie bitten, mit ihnen zu beten. Aus Angst oder Trauer. Aus Hoffnung oder aus Liebe. Aus dem Wunsch nach einem Segen für das Kommende heraus. Dann ist der Gottesdienst mehr als eine Routine. Er ist zum Wunsch geworden. Diese Feier lebt dann, weil sie sich nicht einfach wiederholt, sondern gerufen wird."