Diakonie-Chef Lilie über „assistierten Suizid“
Sonntag, 21.02.2021
Die vom Bundestag Ende 2015 verabschiedete gesetzliche Regelung, wonach eine gewerbsmäßige Hilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) verboten ist, wurde vom Bundesverfassungsgericht am 26.2.2020 für nichtig erklärt. Neue Lösungen sind gefragt.
In seinem Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Neuregelung von § 217 des Strafgesetzbuches (StGB) zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vom 3. Dezember 2015 nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und deshalb nichtig sei. Das Gericht gab damit mehreren Privatpersonen und einem Sterbehilfe-Verein recht, die unter Hinweis auf die Artikel 1, 2 und 12 des Grundgesetzes Verfassungsbeschwerden eingereicht hatten.
In seinen Leitsätzen zum Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht u.a. fest: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. (…) Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt.“
Ende Januar 2021 – also knapp ein Jahr nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – haben die Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach (SPD), Petra Sitte (Die Linke) und Katrin Helling-Plahr (FDP) eine fraktionsübergreifende Initiative für eine Neuregelung zur Sterbehilfe vorgestellt. Zentraler Punkt ihres Vorschlags ist laut Deutschem Ärzteblatt „eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes. Künftig soll eine ärztliche Verschreibung von Natrium-Pentobarbital an einwilligungsfähige Suizidwillige möglich werden, sofern sich diese einer verpflichtenden Beratung unterzogen haben und auch noch nach zehn Tagen Bedenkzeit bei ihrem Todeswunsch bleiben.“
Das Ärzteblatt zitiert die Abgeordnete Helling-Plahr mit den Worten: „Wer das Medikament bekommen will, muss darlegen, dass er einwilligungsfähig ist, der Suizidwunsch dauerhaft ist und er autonom und in freier Entscheidung gebildet wurde – ohne Druck oder Einflussnahme von außen“. Notwendig sei ein klarer Rechtsrahmen, der den Zugang zum tödlichen Mittel mit einem Schutzkonzept flankiere. Ein zweiter Vorschlag zur Neuregelung von § 217 Abs. 1 StGB kommt von den beiden Grünen-Abgeordneten Renate Künast und Katja Keul. Sie wollen ihren Entwurf als „Schutzkonzept“ verstanden wissen, das danach differenziert, „ob die Betroffenen ihren Tod wegen einer schweren Krankheit anstreben oder aus anderen Gründen.“
Als Trägerin von Krankenhäusern, Altenpflegeheimen und anderen Einrichtungen betrifft die Diskussion über den assistierten Suizid und seine rechtliche Regelung auch die evangelische Kirche und ihre Diakonie. Der Präsident der Diakonie Deutschland, Pfarrer Ulrich Lilie, hatte sich bereits Anfang Januar 2021 zusammen mit den beiden Theologieprofessoren Dr. Reiner Anselm und Dr. Isolde Karle dafür ausgesprochen, auch in kirchlichen Einrichtungen den assistierten Suizid unter bestimmten Voraussetzungen möglich zu machen. Ihr gemeinsamer Text wurde als Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht und sorgt seitdem für Gesprächsstoff.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte bereits im Juni 2020 in einer Stellungnahme erklärt, dass sie „jede organisierte Hilfe zum Suizid“ ablehne. Die Selbsttötung dürfe nicht „zur Option neben anderen“ werden. Diakonie-Präsident Lilie jedoch plädiert weiter dafür, sich dem Thema „tastend“ zu nähern und sich weder der Diskussion noch Argumenten zu verweigern. Lilie, der selbst 25 Jahre lang alte und todkranke Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet hat, setzt sich zum einen für einen weiteren Ausbau und eine noch stärkere Professionalisierung in der Hospizarbeit ein. Pflegekräfte, Palliativmediziner, Seelsorger und Physiotherapeuten könnten gemeinsam eine optimale Begleitung auch suizidgefährdeter Menschen erreichen, so dass der Wunsch nach einem „Giftcocktail“ in den Hintergrund tritt.
Zum anderen weiß Diakonie-Präsident Lilie aber auch aus eigener beruflicher Erfahrung, dass es immer wieder Grenzfälle gibt: „Ich weiß eine Patientin, die an einem ganz furchtbar Tumor gelitten hat und die sich nicht mehr bewegen konnte, fast nur noch mit dem Gesicht kommunizieren konnte. Die mir dann signalisiert hat, Herr Lilie, Sie haben doch gesagt, das ist gestaltbar. Den Blick, mit dem sie mich da angeguckt hat, den hab ich nicht vergessen. Also ich glaube, für sie war es nicht mehr gestaltbar.“
Dann beim Sterben helfen zu dürfen, sollte aus Sicht von Ulrich Lilie grundsätzlich möglich sein – auch in kirchlichen Krankenhäusern oder Alteneinrichtungen. Seiner Erfahrung nach sind es nur wenige Fälle pro Jahr, von denen deshalb auch jeder für sich einzeln betrachtet, geprüft und entschieden werden müsse. Allgemeine Leitlinien für einen assistierten Suizid lehnt der Diakonie-Chef ab: „Es darf keine Automatismen geben, erst recht kein Normalfall werden. (…) Aber es gibt diese schwierigen einzelnen Situationen. Und dann ist die Frage: Wie wollen wir die beantworten? Und mir ist wichtig, dass wir diese Debatte jetzt führen, dass wir sehr sorgfältig hingucken und sagen Was sind das für neue Herausforderungen und wie können wir die so aus unserem Glauben heraus beantworten, dass wir uns um die Einzelfallgerechtigkeit dabei nicht herumdrücken?“