Erdogans Coup: Hagia Sophia ist wieder Moschee
Sonntag, 09.08.2020
Die im Jahr 537 fertiggestellte Hagia Sophia war fast 1000 Jahre lang die Hauptkirche des byzantinisches Reiches. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 wurde sie bis 1934 als Moschee genutzt und war danach 86 Jahre lang ein Museum.
Die Initiative, das imposante Bauwerk einem weltlichen Verwendungszweck zuzuführen, ging vom Staatsgründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Pascha, (später Mustafa Kemal Atatürk) aus. Er war nach dem Ersten Weltkrieg von 1923 bis 1938 erster Präsident der aus dem Osmanischen Reich hervorgegangenen Republik Türkei. Unter seiner Regierung hat Atatürk die Modernisierung des Landes nach westlichem Vorbild vorangetrieben und es u.a. auch durch die Abschaffung von Sultanat und Kalifat zu einem laizistischen Staat geformt, in dem Staat und Religion strikt getrennt wurden.
Dazu passt auch die Entscheidung seines Ministerrates vom 24. November 1934, die Hagia Sophia von einer Moschee in ein Museum umzuwandeln. Durch den Status als Museum hatten danach alle Menschen unabhängig von ihrer religiösen Ausrichtung ungehinderten Zugang zu dem Gebäude, das von der UNESCO im Jahr 1985 zur Weltkulturerbestätte erklärt wurde.
Den strikt laizistischen Kurs des Gründervaters Atatürk hat der heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nie geteilt. Schon zu Beginn seiner politischen Karriere 1995 als Oberbürgermeister von Istanbul verfolgte er religiös-konservative Ziele. Hierzu zählten u.a. ein Alkoholverbot in städtischen Lokalen, die Einführung gesonderter Badezonen für Frauen oder getrennter Schulbusse für Jungen und Mädchen. Während einer Pressekonferenz als Bürgermeister soll Erdoğan geäußert haben, dass es unmöglich sei, laizistisch und gleichzeitig ein Moslem zu sein („Hem laik hem Müslüman olunmaz“). In einem Interview mit der Zeitung Milliyet bezeichnete er sich zudem als Anhänger der Scharia.
Spätestens seit seiner Wahl zum türkischen Staatspräsidenten 2014 arbeitet Erdoğan daran, seine Machtfülle und Kompetenzen immer weiter auszubauen. Ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg war die Volksabstimmung zu Verfassungsänderungen am 16. April 2017. Dabei ging es um die Änderung von insgesamt 69 Artikeln der Verfassung, die dem Präsidenten des Landes u.a. stärkere Exekutivbefugnisse und mehr Einfluss auf die Justiz in der Hand geben sollten.
Bei der Volksabstimmung stimmten 51,41 % für die Verfassungsänderung und damit zugleich für eine Änderung der Regierungsform von einem Parlamentarischen Regierungssystem hin zu einem Präsidialsystem. Die Venedig-Kommission des Europarates warnte im Vorfeld bereits vor einem „persönlichen Regime“ und sprach von der Gefahr des Abgleitens in ein diktatorisches System. Diese Befürchtungen haben sich inzwischen zumindest teilweise bestätigt: Der Einfluss Erdoğans auf Richter und Staatsanwälte ist enorm, die Pressefreiheit stark unter Druck, und aktuellen Meldungen zufolge hat das türkische Parlament am 29.7.2020 ein Gesetz verabschiedet, mit dem Internetdienste wie Facebook und Twitter noch schärfer als bisher schon kontrolliert und sanktioniert werden sollen.
Erdoğan reagiert damit auf den politischen Druck, der auf ihm lastet. Das SPD-Onlinemedium „Vorwärts“ schreibt dazu: „Die seit zwei Jahren anhaltende Wirtschaftskrise hat sich durch Corona noch einmal enorm verstärkt. Wegen Massenarbeitslosigkeit und dem stetigen Währungsverfall kämpfen viele Türken ums Überleben. Die Opposition hat seit den Kommunalwahlen 2019 an Aufwind gewonnen, Erdogans einstige Weggefährten Ahmet Davutolgu und Ali Babacan haben in den letzten Monaten eigene Parteien gegründet, sein Rückhalt in der eigenen Partei schwindet.“
In dieser Situation kommt Erdoğan eine richterliche Entscheidung über die Zukunft der Hagia Sophia gerade recht. Am 10. Juli 2020 hat das oberste Verwaltungsgericht der Türkei entschieden, dass das Museum künftig wieder als Moschee genutzt werden darf. Für Erdoğan ein Triumph, den er nutzen kann, um sich gegenüber nationalistischen Kreisen und seinem ultrarechten Koalitionspartner MHP als „starker Mann“ zu präsentieren – auch in der Hoffnung, davon bei den nächsten Wahlen profitieren zu können.
Auf Anordnung und unter Beteiligung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan fand in der Hagia Sophia am 24. Juli 2020 das erste islamische Freitagsgebet seit 86 Jahren statt. Der Byzantinist Prof. Dr. Michael Grünbart vom Exzellenzcluster Religion & Politik an der Uni Münster schreibt dazu: „Eigentlich handelt es sich dabei weniger um eine religiöse Angelegenheit – die Hagia Sophia ist seit mehr als 550 Jahren keine christliche Kirche mehr – als vielmehr um eine national(istisch)e Befindlichkeit.“ Den kompletten Artikel gibt es hier. Eine weitere Leseempfehlung ist der ausführliche Kommentar von Thomas Schmid in der WELT vom 28.7.2020 mit dem Titel „Das kann die Christenheit aushalten“