Evangelische Jugend plant queeren Gottesdienst
Sonntag, 13.11.2022
Kirche und Sexualität – das war immer schon ein Minenfeld. Sex durfte es nur zwischen Mann und Frau und nur im Rahmen der Ehe geben, mit dem Ziel, eine Familie zu gründen. Alles andere wurde als „Schweinkram“ verurteilt und als unbiblisch abgelehnt.
Auch im prüden Deutschland der 1950er und 60er Jahre war Sexualität kein öffentliches Thema. Darüber sprach man nicht. Zwar war die Antibabypille ab August 1960 in den USA auf dem Markt und ab 1961 auch in Deutschland erhältlich – sie galt aber damals als Medikament gegen Menstruationsbeschwerden und wurde in Deutschland nur verheirateten Frauen mit mehreren Kindern verschrieben. Die empfängnisverhütende Wirkung tauchte in der Packungsbeilage nur als Nebenwirkung auf.
Das Bundesamt für politische Bildung (BPB) schreibt über diese Zeit: „Die Kirchen (…) protestierten gegen die Einführung des Verhütungsmittels. Am 25. Juli 1968 verurteilte der damalige Papst Paul VI. in der Enzyklika Humanae Vitae die Geburtenkontrolle durch künstliche Verhütungsmittel. Darin heißt es, diese würden den außerehelichen Geschlechtsverkehr befördern und zur »allgemeinen Aufweichung der sittlichen Zucht« beitragen. Auch viele Ärzte warnten etwa in der »Ulmer Denkschrift« von 1964 vor einer »wachsenden Sexualisierung unseres öffentlichen Lebens«.“
Doch damit war die sexuelle Revolution, die ihren Ausgangspunkt in der 68er-Bewegung hatte, nicht mehr aufzuhalten. Befeuert wurde sie in Deutschland ausgerechnet vom Staat in Person der damaligen SPD-Gesundheitsministerin Käte Strobel. Sie hatte einen Aufklärungsfilm zu den Themen Zeugung, Schwangerschaft und Geburt in Auftrag gegeben, der sich auf eine wissenschaftlich fundierte Faktenvermittlung beschränken sollte.
Das Resultat kam am 22. September 1967 unter dem Titel „Helga. Vom Werden des menschlichen Lebens“ in die deutschen Kinos. Allein im ersten Jahr sahen den Film knapp fünf Millionen Deutsche, weltweit waren es sogar 40 Millionen. Für den Skandalmoment des Films sorgten gegen Ende die Aufnahmen von einer echten Geburt, bei der die Kamera die Vulva und das Babyköpfchen in Großaufnahme zeigte. „Und das im Jahr 1967: als Väter im Kreißsaal noch nichts zu schaffen hatten, als Abtreibung verboten und Homosexualität strafbar war. Als die Pille offiziell nur verheirateten Frauen ausgehändigt wurde und der »Kuppeleiparagraf« Menschen ins Gefängnis brachte, die unverheiratete Paare bei sich beherbergten“ schreibt das Nachrichtenmagazin „SPIEGEL“ dazu.
Dem ersten „Helga“-Film folgten noch zwei andere, die allerdings nicht mehr von der Regierung finanziert wurden. Danach übernahm der Regisseur Oswald Kolle die weitere Aufklärung der deutschen Nation mit Filmen wie "Deine Frau, das unbekannte Wesen" und "Dein Mann, das unbekannte Wesen". Auf ihn folgten dann unter dem Deckmantel der Aufklärung die ersten Sexfilme – allen voran der mehrteilige „Schulmädchen-Report“ und die „Lederhosen-Reihe“.
Die freizügigen Filme, vor allem aber auch die Antibabypille trugen dazu bei, dass Sex offener diskutiert und praktiziert wurde, erklärt das BPA: „Frauen setzten sich für das Recht ein, über ihren eigenen Körper frei verfügen zu können: Sexualität und Fortpflanzung sollten nicht länger direkt miteinander verknüpft, selbstbestimmte Familienplanung künftig möglich sein.“
Die sexuelle Befreiung blieb auch nicht ohne Folgen für die sogenannten „Schwulenparagraphen“ §175 und §175a aus dem Strafgesetzbuch. In Wikipedia ist zu lesen: „1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung wurde 1994 der § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben. In der ehemaligen DDR war er bereits 1. Juli 1989 gestrichen worden.“
International gesehen war es aber ein anderes Ereignis, das zu einer Befreiung der Schwulen- und Lesbenbewegung führte: Der sogenannte „Christopher Street Day“. Er erinnert – laut Wikipedia – „an den ersten bekanntgewordenen Aufstand von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten gegen die Polizeiwillkür in der New Yorker Christopher Street im Stadtviertel Greenwich Village: In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 fand in der Bar »Stonewall Inn« der sogenannte Stonewall-Aufstand statt. Zu dieser Zeit gab es immer wieder gewalttätige Razzien der Polizei in Kneipen mit trans- und homosexuellem Zielpublikum. Besonders betroffen von Misshandlungen und Willkür waren Afroamerikaner und solche mit lateinamerikanischer Herkunft. Als sich an diesem Abend insbesondere Dragqueens und transsexuelle Latinas und Schwarze gegen die wiederkehrenden Kontrollen wehrten, war dies der Ausschlag für tagelange Straßenschlachten mit der New Yorker Polizei. Um des ersten Jahrestages des Aufstands zu gedenken, wurde das Christopher Street Liberation Day Committee gegründet. Seitdem wird in New York am letzten Samstag des Juni, dem Christopher Street Liberation Day, mit einem Straßenumzug an dieses Ereignis erinnert. Daraus ist eine internationale Tradition geworden, im Sommer eine Demonstration für die Rechte von Schwulen und Lesben abzuhalten.“ Übrigens: Die erste „Schwulen-Demo“ in Deutschland fand am 29. April 1972 ausgerechnet im erzkatholischen Münster (NRW) statt. Vor 50 Jahren gingen dort rund 100 Aktivistinnen und Aktivisten für die Rechte von Homosexuellen auf die Straße.
Heute können sich schwule und lesbische Paare in vielen evangelischen Landeskirchen segnen oder sogar kirchlich trauen lassen. Selbst schwule Pfarrer und lesbische Pfarrerinnen gehören heute zum Erscheinungsbild der evangelischen Kirche. Zum Beispiel Ellen und Stefanie Radtke: Sie sind beide evangelische Pastorinnen, lesbisch und verheiratet – und haben vor kurzem durch künstliche Befruchtung ein gemeinsames Kind bekommen. Auf ihrem YouTube-Kanal @andersamen sprechen die beiden über Queerness und Kirche und wie das zusammenpasst.
Auf katholischer Seite ist man noch längst nicht so weit. Homosexualität ist nach katholischer Lehre Sünde und wird in den eigenen Reihen unterdrückt und vertuscht. Wer sich outet, muss mit Schwierigkeiten rechnen. Entsprechend große Beachtung findet der 2022 erschienene Dokumentarfilm "Wie Gott uns schuf – Coming-Out in der Katholischen Kirche". Die Macher Hajo Seppelt, Katharina Kühn, Marc Rosenthal und Peter Wozny zeigen in persönlichen Portraits und Statements das Coming-Out von 125 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kirche in unterschiedlichen Positionen. Alle gehören der Initiative „Out in church“ an, die sich für eine Kirche ohne Angst einsetzt. Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet der Film „Wie Gott uns schuf“ wurde am 3. November 2022 mit dem Katholischen Medienpreis ausgezeichnet. Er wird verliehen von der Deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Katholischer Publizisten e. V. und dem Katholischen Medienverband e. V. Die Reaktion darauf von „Out in church“ ist hier nachzulesen.