Flutkatastrophe: Mobile Seelsorge bleibt bis 2023
Sonntag, 10.07.2022
183 Tote, rund 800 Verletzte und Schäden in Milliardenhöhe – das war die schreckliche Bilanz des Hochwassers in NRW und Rheinland-Pfalz vor einem Jahr. Am 14. Juli jährt sich die Flutkatastrophe zum ersten Mal. Viele brauchen immer noch Hilfe.
„Wir sind alle müde, erschöpft, aggressiv und einfach auch sehr traurig“, erzählt Gabi Gasper, die die Flutnacht zusammen mit ihrem Mann in ihrem Haus in Altenburg im Ahrtal erlebte. „Es dauert alles monatelang, ehe Architekten, Gutachter, Handwerker kommen, und die ganze Situation ist einfach zur Zeit sehr zermürbend – wir sind ausgebrannt.“ So wie ihr geht es vielen, die vor einem Jahr ihr gesamtes Hab und Gut in den Schlamm- und Wassermassen verloren haben.
Die Aufräumarbeiten sind zwar abgeschlossen, Tonnen von Sperrmüll, Autowracks, Schlamm und Schutt abtransportiert, doch von einer Rückkehr zur Normalität kann vielerorts noch immer nicht die Rede sein. Unübersehbar sind nach wie vor die Schäden an der Infrastruktur, vor allem aber die Instandsetzung der Häuser macht Probleme. „Es gibt immer noch für viele keinen Bescheid, ob ihr Haus bleiben und aufgebaut werden kann, oder ob es abgerissen werden muss“, erklärt Sabine Elsemann vom mobilen Seelsorgeteam der Evangelischen Kirche im Rheinland für das Ahrtal. „Handwerker stehen nicht zur Verfügung, die Leute können hier nichts planen, und so langsam geht ihnen die Puste aus.“
Die Talsohle – so Elsemann – sei noch nicht erreicht. Viele Betroffene hätten gedacht, dass ihre Häuser und Wohnungen zum Sommer hin trocken seien und sie wieder einziehen könnten. Aber diese Hoffnung habe sich nicht erfüllt und verschiebe sich immer weiter nach hinten. Das sei frustrierend, erklärt die Psychologin und Notfallseelsorgerin. Hauptgründe für den nur schleppenden Fortschritt sind technische und bürokratische Hürden. So fehlt es einerseits an Gutachtern, die über die Statik und Sicherheit der beschädigten Gebäude urteilen und auch die Höhe des Schadens feststellen können. Damit aber fehlen wichtige Daten, die für die Beantragung von Versicherungsleistungen und staatlichen Wiederaufbauhilfen unverzichtbar sind. Andererseits können mögliche Aufbauarbeiten nicht begonnen werden, weil es zu wenig Handwerker gibt.
Nur wenige Wochen nach der Flutkatastrophe hatte die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) zehn mobile Fluthilfeteams mit insgesamt 45 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Hochwassergebiete entsandt. Diese multiprofessionellen Teams, zu denen neben Seelsorgern auch Pädagoginnen, Psychologinnen und Bauberater gehören, sind bis heute vor Ort im Einsatz. Es sei ein „aufsuchendes und nachgehendes Seelsorgeangebot“, erklärt der Vizepräses der EKiR, Christoph Pistorius: „In der Anfangszeit gab es unzählige Hausbesuche, Gespräche an Info-Points und Versorgungszelten und Einsätze in Beratungsbussen.“
Inzwischen arbeiten die mobilen Seelsorgeteams auch mit den diakonischen Werken und Beratungsstellen vor Ort zusammen, um die Betroffenen vor allem auch bei der Beantragung von Sach- und Geldleistungen wie der staatlichen Wiederaufbauhilfe zu unterstützen. Weil letztere nur online eingereicht werden können, haben vor allem ältere Menschen Mühe, die Anträge auszufüllen und abzugeben.
Genauso wichtig und gefragt ist aber nach wie vor auch die seelsorgerliche und psychosoziale Begleitung der Flutopfer, sagt Vizepräses Pistorius: „Für uns ist völlig klar: Da ist noch unheimlich viel zu tun. Mit zeitlichem Versatz kommen bei den Menschen nun verstärkt traumatische Erfahrungen der Flut hoch, und selbst da, wo Dinge äußerlich wiederhergestellt sind, merken Menschen, dass da noch etwas tief in ihren Knochen steckt. Und in diesen Situationen wollen wir die Menschen nicht alleine lassen, weil der Bedarf unmittelbar einleuchtend ist.“
Die Evangelische Kirche im Rheinland hat deshalb beschlossen, ihre Seelsorgeangebote in den besonders betroffenen Schwerpunktregionen wie dem Ahrtal um ein weiteres Jahr bis mindestens August 2023 zu verlängern. Finanziert werden die Angebote durch Spendengelder der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und der Diakonie Katastrophenhilfe. Gemeinsam haben sie insgesamt 43,3 Millionen Euro für die Flutopfer eingesammelt. Davon wurden nach Angaben der beiden Organisationen bereits 11,3 Millionen Euro ausgegeben, weitere 25 Millionen Euro seien fest verplant. Allein in der Akutphase unmittelbar nach der Katastrophe wurden 2,8 Millionen Euro unbürokratisch als Soforthilfen an mehr als 6.000 Haushalte ausgegeben.
Wann weitere Spendengelder an die Betroffenen ausgezahlt werden können, hängt derzeit von anderen Stellen ab. Während die finanziellen Soforthilfen der Spendenorganisationen und später auch die sogenannten Haushaltsbeihilfen (zur Wiederanschaffung des Haushalts) relativ unbürokratisch gewährt und ausgezahlt werden durften, können sie jetzt laut Gesetz nur nachrangig eingesetzt werden. Das bedeutet: In der aktuellen Phase des Wiederaufbaus sind zunächst die Versicherungen und dann auch staatliche Stellen in der Pflicht. Sie übernehmen in NRW bis zu 80% des entstandenen Schadens, 20% müssen die Geschädigten selber tragen. Wo das nicht möglich ist, können sie zum Beispiel bei Caritas, Diakonie oder bei der Aktion „Deutschland hilft“ Spendengelder beantragen.
Wie der Evangelische Pressedienst (epd) am 13. Juli 2022 berichtet, hat das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI) in einer Umfrage unter den Hilfsorganisationen ermittelt, dass innerhalb eines Jahres nach der Flutkatastrophe 655 Millionen Euro für die vom Hochwasser betroffenen Menschen gespendet worden sind. An der Umfrage haben sich 49 Hilfswerke, Bündnisse, staatliche Einrichtungen und Verbände beteiligt. Weiter heißt es im epd-Bericht: „38 der befragten Einrichtungen hätten in der Umfrage auch Angaben über die Verwendung der Mittel gemacht. Danach hatten sie zum Zeitpunkt der Umfrage Ende Juni 2022 bereits 35 Prozent der erhaltenen Spenden ausgegeben. Weitere 46 Prozent der Gelder waren für Vorhaben vorgesehen oder zumindest konkret eingeplant. Ein knappes Drittel der Organisationen, die auf die Umfrage antworteten, gab demnach an, bereits sämtliche Mittel ausgegeben oder weitergeleitet zu haben. Als Hinderungsgrund für eine rasche Verwendung der Gelder gaben die Spendenempfänger unter anderem schwierige Abstimmungsprozesse mit anderen Beteiligten wie staatlichen Stellen, Partnerorganisationen oder Versicherungen an.“