Fußball-WM in Katar: Gucken oder boykottieren?
Sonntag, 02.10.2022
Die Entscheidung liegt satte zwölf Jahre zurück: Am 2. Dezember 2010 gab die FIFA in Zürich bekannt, dass die Fußball-WM 2022 im Wüstenstaat Katar stattfinden wird. Die Wahl löste heftige Kritik aus, die sich bis heute hält.
Nach der Vergabe wurde der Verdacht geäußert, Katar habe Schmiergelder an FIFA-Funktionäre gezahlt, damit diese im Exekutivkommitee für eine WM im Wüstenstaat votieren. Laut einem Bericht des Deutschlandfunks vom Dezember 2019 können diese Vorwürfe inzwischen als zutreffend angesehen werden. Aber nicht nur Korruptionsvorwürfe belasten das geplante Fußballfest, das am 20.11.2022 mit dem Spiel Katar gegen Ecuador eröffnet werden soll, schwer.
Der englischen Zeitung „The Guardian“ zufolge sollen beim Bau der Stadien etwa 6.500 Arbeiter ums Leben gekommen sein. Amnesty International spricht ebenfalls von „mehreren Tausend Toten“. FIFA-Präsident Gianni Infantino beziffert deren Zahl dagegen auf lediglich drei. Sylvia Schenk, Juristin bei Transparency International Germany sagt, in dem oft zitierten Bericht des Guardian stehe etwas anderes und erklärt: „In zehn Jahren sind von 1,4 Millionen in Katar lebenden Migrant:innen aus fünf Herkunftsländern 6.500 gestorben, d.h. durchschnittlich 650 im Jahr. Das ist bei 1,4 Millionen Menschen keine außergewöhnliche Todesrate. Das gleiche gilt für die offizielle Zahl der katarischen Regierung von 15 021 Todesfällen in zehn Jahren unter den 2,2 Millionen Menschen im Land ohne katarische Staatsangehörigkeit. Auf den Stadion-Baustellen einschließlich Wegeunfällen sind seit Baubeginn tatsächlich 37 Arbeiter tödlich verunglückt. Jeder Tote ist einer zu viel.“
Am 20.9.2022 berichtete der Nachrichtensender N-TV über einen Besuch des katarischen Botschafters Abdulla Mohammed al Thani bei einem Kongress des Deutschen Fußball-Bundes zur Menschenrechtslage im Emirat am Golf in Frankfurt. Hier heißt es u.a.: „Konkret forderte die Gewerkschaft Bau- und Holzarbeiter Internationale (BHI) von der FIFA die Einrichtung eines Entschädigungsfonds in Höhe von 440 Millionen US-Dollar für die Angehörigen von Arbeitern, die auf WM-Baustellen gestorbenen sind oder verletzt wurden. DFB-Präsident Bernd Neuendorf unterstützte die Einrichtung eines solchen Fonds. Hier stehe auch die FIFA in der Verantwortung, sagte er.“
Wie viele Tote es tatsächlich waren, wird vielleicht nie ganz geklärt werden. Eine differenzierte Betrachtung liefert dieser Bericht des Tagesspiegel. Klar ist aber: Die Sicherheits- und Arbeitsbedingungen für die meist aus Bangladesch, Indien, Nepal, Philippinen und Pakistan stammenden Arbeitskräfte lagen deutlich unter westlichen Standards. Zum Teil wurden ihnen ihre Pässe abgenommen, so dass sie Katar nicht verlassen konnten. Auch versprochene Löhne wurden entweder verspätet oder auch gar nicht ausbezahlt.
Die Vergabe der Fußball-WM an Katar wurde auch deshalb scharf kritisiert, weil das Land selber gar keine Fußballtradition aufzuweisen hat. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit stelle sich deshalb die Frage, was mit den sieben neu gebauten Stadien geschehen soll, wenn das Turnier am 18. Dezember 2022 vorbei sein wird? Wer soll die Arenen dann nutzen, welche Vereine dort spielen? Ein weiterer Kritikpunkt – nämlich der an den klimatischen Bedingungen – wurde entschärft, indem man im Februar 2015 die WM einfach in den Winter verlegte, um der Sommerhitze in Katar zu entgehen. Obwohl damit ein Großteil der Spiele in die am 27.11. beginnende Adventszeit fallen und das Endspiel am 4. Adventssonntag stattfinden wird, war von den Kirchen nur vereinzelt Kritik zu hören.
Auch die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hat sich auf ihrer Tagung im November 2021 nicht zu einem Boykottaufruf durchringen können. In dem entsprechenden Beschluss heißt es u.a.: „Sportlicher Wettbewerb soll dazu dienen, dass Menschen sich wertschätzend messen können und die Verständigung zwischen Nationen, Kulturen und Teams gefördert wird. Sportlicher Wettbewerb darf nicht dazu instrumentalisiert werden, um undemokratische Prozesse, Strukturen, Staaten und Institutionen zu legitimieren, aufzuwerten, sie ideell und finanziell zu fördern. Aus diesem Grundverständnis heraus und angesichts aktueller Boykottforderungen im Blick auf das Jahr 2022 kritisiert die Synode der EKD sowohl die Vergabe der olympischen Winterspiele nach China durch das IOC als auch die Vergabe der Fußball-WM nach Katar durch die FIFA. Die Synode fordert, dass für die künftige Vergabe von sportlichen Großveranstaltungen die Einhaltung der Menschenrechte zu einem zentralen Kriterium wird. Im Rahmen des Bildungsanspruchs von Kirche hält die Synode der EKD es für geboten, Menschen den Zugang zu einer kritischen Auseinandersetzung mit sportlichen Großveranstaltungen zu ermöglichen. Daher ermutigt sie Einrichtungen, Gemeinden, Werke und Verbände, alle Aktionen und Projekte, die zu den sportlichen Großereignissen des kommenden Jahres geplant werden, konsequent zur Auseinandersetzung mit kritischen Themen dieser Veranstaltungen zu nutzen. Dazu zählen die Verletzung von Menschenrechten, die Diskriminierung oder gar Verfolgung von Minderheiten, die Einschränkungen von Meinungs- und Religionsfreiheit, soziale Ungleichheit, die Auswirkungen auf das Klima und auch die Fragen nach Propaganda und wirtschaftlichen Interessen. Die Synode der EKD begrüßt und unterstützt die Anstrengungen von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, Stakeholder-Initiativen und auch jenen kritischen Stimmen innerhalb der Sportverbände, die die politische und soziale Verantwortung des Sports vertreten und sich hier klar positionieren. Journalist*innen und Medien ermutigt die Synode, die olympischen Spiele und die Fußball-WM nicht nur als reine Sportevents zu kommentieren, sondern auch kritische Themen öffentlich zu machen.“
Im September 2022 haben nun mehrere evanglische Landeskirchen zusammen mit dem Arbeitskreis „Kirche und Sport“ der EKD eine Arbeitshilfe für Gemeinden zur Fußball-WM in Katar herausgegeben. Die 36 Seiten starke Broschüre im Format DinA4 trägt den von einem Adventslied inspirierten Titel „Macht hoch die Tür, die Tooor macht weit“. Darin schreiben Theologen, aber auch Gewerkschafter, Juristen, Sportler, Journalisten und Experten von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch über ihre Sicht auf diese Fußball-WM – sehr fundiert, informativ und differenziert.
„Niemals zuvor hat ein großes Fußballturnier lange vor dem ersten Anpfiff für so heftige Debatten gesorgt“, schreibt z.B. die ZDF-Sportjournalistin Claudia Neumann und schließt mit den Worten „Diese WM wird aus journalistischer Sicht die politischste, die es je gegeben hat.“ Dietmar Schäfers, Beauftragter der IG Bau und Vizepräsident der Bau- und Holzarbeiterinternationale (BHI), hat in seinem Artikel in der Broschüre vor allem die Rechte der Arbeiter vor Augen: „Seit 2017 führen wir nun regelmäßig internationale Arbeitsinspektionen auf den WM-Baustellen durch und beraten die katarischen Behörden in Fragen der Arbeitssicherheit. Schritt für Schritt konnten wir Fortschritte erzielen. Die Essens- und Wasserversorgung hat sich für die Beschäftigten auf den WM-Baustellen verbessert. Auf den WM-Baustellen wurden „Sprecher der Arbeiter“ gewählt. Wir begleiten Schulungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz. Auf Anregung der BHI haben viele Wanderarbeiter ihre landsmännischen Vertreter gewählt (Community Leader). Viermal im Jahr findet ein „Community Leaders Forum“ mit dem Arbeitsminister statt. In diesem Forum werden Anregungen und Beschwerden erörtert. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz auf den WM-Baustellen entspricht mittlerweile dem Standard der BRD oder USA.“ Angesichts dieser Entwicklungen kommt Schäfers zu dem Schluss: „Ein Boykott hilft nicht den Arbeitern und würde die konservativen Kräfte stärken und die Reformer schwächen.“