Heiner Geißler: "Die Kirchen sind viel zu leise!"
Sonntag, 29.05.2016
In seinem jüngsten Buch "Was müsste Luther heute sagen?" spart der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler nicht mit Kritik am Reformator. Auch den beiden großen Kirchen liest der 86jährige auf 288 Seiten die Leviten.
Statt den herrschenden Turbokapitalismus zu kritisieren und dagegen anzugehen, hätten evangelische wie katholische Kirche dessen Denken in Teilen übernommen und würden ihre eigenen Organisationen "kaputtsparen". Hier wünscht sich Geißler eine radikale Wende und nichts weniger, als dass sich beide Konfessionen wieder zu einer einzigen Kirche vereinen. Bald 500 Jahre Trennung seien genug. Gemeinsam könnten die Kirchen genug Kraft entfalten, um falsche wirtschaftspolitische Entwicklungen zu korrigieren und damit die Solidarität der Menschen untereinander zu stärken.
Martin Luther könne in dieser Hinsicht durchaus als Vorbild dienen, meint Heiner Geißler. Schließlich habe der Reformator mutig gegen den Machtanspruch und Einfluss der damaligen Kirche aufbegehrt und sei in seiner Kritik trotz aller Anfeindungen standhaft geblieben. Ein ähnliches Auftreten wünscht sich Geißler offenbar von den heutigen Kirchen, wenn es darum geht, gegenüber Wirtschaft oder Politik Position zu beziehen. Im Interview mit der Kirchenredaktion PEP mahnt der 86jährige: "Die Kirchen müssen endlich sich darüber im Klaren sein, dass das Evangelium eine politische Dimension hat, (…) nicht nur eine vertikale. Fromm sein, beten, Posaune blasen, sondern sich einmischen, so wie das Jesus natürlich auch gemacht hat, aber die Kirchen sind viel zu still, (…) zu leise, sie haben nicht den Mut, zu streiten mit den materialistischen Kräften, die die Welt beherrschen."
Bei aller Hochachtung für Martin Luther tut sich Heiner Geißler mit einigen theologischen Grundsätzen des Reformators sehr schwer. Dessen Rechtfertigungslehre, die auf Buße und die Sündenvergebung durch die Gnade Gottes aufbaut, hält Geißler für fragwürdig. Sie sei mit seinem Verständnis von Gott als Schöpfer allen Lebens kaum vereinbar. In einem Interview mit dem WDR erklärte er, er wolle nicht auf Gnade angewiesen sein, sei jedoch gerne tätiger Christ. Deshalb habe er einen Teil seines politischen Lebens auf die Sozial- und Menschenrechtspolitik konzentriert.
Die Analysen und Schlussfolgerungen in seinem Buch würzt Heiner Geißler immer wieder mit persönlichen Fußnoten und plastischen Beispielen. So erzählt er an einer Stelle von seiner Großmutter im schwäbischen Oberndorf, die dem örtlichen katholischen Priester bis in die 1930er Jahre hinein regelmäßig Geld zukommen ließ, um einen Sündennachlass zu erwirken. Eine Praxis, die Luther schon im 16. Jahrhundert als falsch gebrandmarkt hatte. An anderer Stelle bemüht er einen pointierten Vergleich, um die Zustände in der mittelalterlichen Kirche zu beschreiben: "Um die Situation in der katholischen Kirche zu Luthers Zeiten zu begreifen, muss man sich vorstellen, es hätte damals nicht einen Tebartz-van-Elst, sondern Tausende von Rom bis weit nach Deutschland hinein gegeben."
"Was müsste Luther heute sagen?" von Heiner Geißler ist im Mai 2015 im Ullstein-Verlag erschienen. Das Buch umfasst 288 Seiten und kostet in der gebundenen Ausgabe 20 Euro.