Kirchenasyl gerät immer mehr unter Druck
Sonntag, 22.12.2024
Das sogenannte Kirchenasyl ist kein legales Rechtsmittel, um die Abschiebung von Flüchtlingen zu verhindern. Trotzdem haben staatliche Stellen diese Praxis bisher respektiert und entsprechende Fälle nochmals geprüft. Das hat sich deutlich geändert
Jüngsten Zahlen zufolge gab es laut der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" Anfang April 2024 bundesweit 594 Fälle von Kirchenasyl. Unter den etwa 780 Betroffenen sind aktuell auch 131 Kinder. Bei der überwiegenden Zahl der Kirchenasyle (96%) handelt es sich um sogenannte "Dublin-Fälle" (572). Das heißt, betroffen sind Flüchtlinge, die aus einem Ersteinreiseland der EU wie z.B. Ungarn nach Deutschland gekommen sind. Dorthin sollen sie zurück – so will es die sogenannte "Dublin-Verordnung" der EU, die im Kern besagt, dass ein Flüchtling, der nach Europa kommt, in dem Land seinen Asylantrag stellen muss, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betreten hat.
Immer wieder treten in der Praxis jedoch Fälle auf, in denen eine Überstellung von Flüchtlingen aus Deutschland zurück in Ersteinreiseländer wie z.B. Bulgarien oder Ungarn eine unzumutbare Härte oder sogar Gefährdung darstellen würde. Besteht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trotzdem auf eine Rückführung, bleibt den Flüchtlingen nur das Kirchenasyl als letzte Hoffnung. In der Regel müssen sie mindestens sechs Monate unter dem Schutz der Kirche verbringen. Nach Ablauf dieser Frist können sie aus rechtlichen Gründen nicht mehr abgeschoben werden und erhalten ihr Asylverfahren in Deutschland.
Kirchengemeinden, die einem Geflüchteten in ihren Räumen Asyl gewähren, müssen grundsätzlich immer die Behörden darüber informieren. Unterliegt der Flüchtling der "Dublin-Verordnung", muss die Gemeinde außerdem ein ausführliches Dossier zusammenstellen, aus dem die Situation des Flüchtlings und die Gründe für einen Härtefall und damit die Gewährung des Kirchenasyls hervorgehen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" schreibt: "Die Dossiers werden mit dem Ziel eingereicht, dass das Bundesamt den Härtefall anerkennt, den Selbsteintritt Deutschlands erklärt und nicht mehr, aufgrund der dort erfolgten Erstregistrierung, ein anderer europäischer Staat für das Asylverfahren zuständig ist. So soll vermieden werden, dass Betroffene in andere europäische Staaten abgeschoben werden und die Möglichkeit auf ein Asylverfahren in Deutschland eröffnet werden."
Diese Vorgehensweise basiert auf einer Vereinbarung aus dem Jahr 2015 zwischen den beiden großen Kirchen einerseits und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) andererseits. Diese Vereinbarung besagt u.a., „dass in begründeten Ausnahmefällen zur Vermeidung von besonderen humanitären Härten eine zwischen den zentralen Ansprechpersonen beider Seiten gesteuerte, lösungsorientierte Einzelfallprüfung im Rahmen des rechtlich Möglichen stattfindet.“ Tatsächlich hat das BAMF in den Folgejahren die meisten eingereichten (Härte)Fälle noch einmal überprüft und seine zuvor negative Entscheidung korrigiert. So endeten 2015 rund 80% aller Kirchenasyle für die Schutzsuchenden positiv.
Diese Quote hat sich seitdem dramatisch verändert. So wurden beispielsweise 2019 fast alle beantragten Kirchenasyle abgelehnt und nur 1,4 Prozent anerkannt. Nur zwei Härtefälle wurden wegen des Kirchenasyls noch einmal überprüft. In einer Pressemitteilung vom 11. Juni 2019 kritisierte das Ökumenische Netzwerks Asyl in der Kirche in NRW diese Entwicklung: "«Die Quote der positiven Dossier-Entscheidungen ist miserabel und ein deutliches Signal dafür, dass nicht humanitäre Gründe, sondern rein formale Kriterien hier Maßstab des BAMF sind. Doch gerade die formale Entscheidung in Dublin-Fällen (…) ohne Berücksichtigung der individuellen oft dramatischen Notsituationen der Menschen führen erst dazu, dass Kirchenasyle in so hoher Zahl notwendig sind,» so Benedikt Kern, Theologe und Mitarbeiter des Netzwerkes, das Kirchengemeinden und Betroffene berät. «Die Regelung von 2015, nach der das BAMF in jedem Dublin-Kirchenasyl ein Dossier vorgelegt bekommen soll, ist spätestens mit dieser Entscheidungsquote ad absurdum geführt. Ich halte eine Fortführung dieser Dossierpraxis nicht für sinnvoll. Denn wir sehen, wie sehr das Kirchenasyl hiermit beschränkt, verbürokratisiert und verunmöglicht werden soll und wie wenig es dem BAMF darum geht, wirklich angemessen auf humanitäre Notlagen einzugehen.»
Bei dieser harten Linie ist das BAMF offenbar bis heute geblieben. Dieter Müller SJ, stellvertretender Vorsitzender im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft "Asyl in der Kirche" (BAG) erklärte dazu im Mai 2024 in einer Pressemitteilung: „Leider werden so gut wie alle vorgelegten Dossiers vom BAMF abgelehnt.“ Begründet würde diese Entscheidung seitens des BAMF mit dem Hinweis, „allein eine anstehende Überstellung in einen anderen Dublin-Staat könne keine Gewährung von Kirchenasyl begründen.“
Weiter heißt es dazu in der Pressemitteilung: „Die Einschätzungen über unzumutbaren Härten im Einzelfall lägen regelmäßig weit auseinander, so die Erfahrung der BAG, die mit vielen Gemeinden und Ordensgemeinschaften, die Kirchenasyl gewähren, in Kontakt steht. Flüchtlinge erlebten in anderen EU-Mitgliedsstaaten Schläge, Inhaftierung unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, oder völlige Vernachlässigung bis hin zur Verelendung. Auch laufende Therapien und ärztliche Empfehlungen werden vom BAMF ignoriert, wie das jüngste Beispiel der Familie aus Russland, die nach Spanien rücküberstellt wurde, obwohl sich die Mutter hier in ärztlicher Behandlung befand, gezeigt hat.“
Seit dem Sommer 2023 hat sich die Situation insofern noch einmal verschärft, als dass es in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern, Hessen und zuletzt auch in Bremen vermehrt zu Räumungen, Räumungsversuchen oder Räumungsandrohungen gegen Kirchenasyle gekommen ist. Für Dieter Müller stellt sich damit die Frage: „Sind Räumungen bzw. deren Androhung, Aktionen einzelner lokaler Ausländerbehörden oder soll damit ein neuer Umgang mit Kirchenasyl eingeleitet werden mit dem Ziel, Pfarreien und Ordensgemeinschaften einzuschüchtern und Kirchenasyl unattraktiv zu machen?“