Missbrauchsprävention: Kirche macht „E.R.N.S.T“
Sonntag, 13.10.2024
Auch in der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie gab es Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt. Zu diesem Ergebnis kommt die Ende Januar 2024 in Hannover vorgestellte ForuM-Studie. Sie spricht von 2.225 Opfer und 1.259 mutmaßlichen Tätern.
Die Autoren der ForuM-Studie, die im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Diakonie erstellt wurde und an der insgesamt acht unabhängige Forschungsinstitute und Universitäten beteiligt waren, weisen in ihrem Abschlussbericht allerdings sehr deutlich darauf hin, dass es sich sowohl bei den Opferzahlen als auch bei der Zahl der ermittelten mutmaßlichen Täter bzw. Beschuldigten nur um „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ handele. Von den insgesamt 20 evangelischen Landeskirchen habe nur eine einzige – wie im Auftrag vereinbart – alle Personalakten vollständig an die Forschenden übergeben. Alle anderen Landeskirchen hätten lediglich Disziplinarakten gesichtet und zugeliefert und dies mit mangelnden zeitlichen und personellen Ressourcen begründet.
Wie es im Abschlussbericht weiter heißt, sei die Datenlage für die ForuM-Studie deshalb deutlich eingeschränkt – und damit auch deren Aussagekraft. Die Forschenden nennen zum Vergleich Zahlen der 2018 veröffentlichten MHG-Studie, die den „sexuellen Missbrauch an Minderjährigen“ in der katholischen Kirche untersucht hatte: „Im Gegensatz zur MHG-Studie, bei der eine Durchsicht von insgesamt 38.156 Personalakten katholischer Pfarrer erfolgte, basieren die vorliegenden Ergebnisse auf einer eingeschränkteren Quellenlage (4.282 Disziplinarakten, 780 Personalakten und 1.318 weitere Unterlagen). Das Forschungsteam der ForuM-Studie ist deshalb sicher: Mehr Akteneinsicht hätte zu höheren Täter- und Opferzahlen geführt. So aber bleibe das Dunkelfeld groß.
Die EKD, ihre 20 Landeskirchen und die Diakonie Deutschlands hatten die ForuM-Studie 2020 in Auftrag gegeben und dafür Finanzmittel in Höhe von 3,6 Mio. Euro bereitgestellt. Nach der Präsentation der Ergebnisse im Januar 2024 zeigten sich alle kirchlichen Vertreter*innen erschüttert und sicherten eine umfassende Aufarbeitung zu. Die hat inzwischen in allen 20 evangelischen Landeskirchen begonnen. Eine Übersicht vom April 2024 zeigt, wo und wie erste Schritte unternommen wurden, eine weitere Übersicht zeigt den Stand vom Sommer 2024
Zur Aufarbeitung gehört nicht nur die schonungslose Aufdeckung von Missbrauchsfällen aus der Vergangenheit, sondern auch die Prävention, um künftige Taten möglichst zu verhindern. In der Evangelischen Kirche im Rheinland setzt man dabei u.a. auf Schulungen für alle haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Kirche. Nach den Worten von Schulungsleiter René Bamberg sollen sie dadurch sensibilisiert werden „für eventuelle Anzeichen von sexualisierter Gewalt - sei es bei unseren eigenen Aktionen, oder sei es auch, dass mir an einem Kind etwas auffällt, was vielleicht im familiären Umfeld oder im privaten Umfeld passiert ist.“
Die Schulungen bestehen aus fünf Schritten, deren Anfangsbuchstaben das Wort „E.R.N.S.T“ ergeben, erklärt Bamberg weiter: „Das E steht für »erkennen« von Anzeichen sexualisierter Gewalt, also das genaue Hinschauen. Das R steht für »Ruhe bewahren«, also strukturiert und besonnen vorgehen. Das N steht für »Nachfragen« – dahinter verbirgt sich, dass wir uns ein Bild machen wollen von der Situation. S steht für »Sicherheit herstellen« und meint, gerade die Betroffenen im Blick zu haben, damit die nicht übergangen werden. Und das T steht für »Täter stoppen« - dass die tatverdächtige Person mit sofortiger Wirkung erstmal freigestellt wird, bis der Sachverhalt geklärt ist.“
Zentrale Beschlüsse zur weiteren Aufarbeitung werden von der Synode der EKD erwartet, die vom 10. bis 13. November 2024 in Würzburg tagt. Hier wird sich das „Kirchenparlament“, dem u.a. auch Vertreter aller 20 evangelischen Landeskirchen angehören, beispielsweise mit Fragen des einheitlichen Umgangs mit Missbrauchsfällen und mit einheitlichen Anerkennungsleistungen für die Betroffenen beschäftigen. Beides wird bislang von Landeskirche zu Landeskirche unterschiedlich gehandhabt – ein Punkt, den die an der ForuM-Studie beteiligten Forscher als „Hindernis für die Aufarbeitung“ bezeichnet hatten. Laut einem Bericht des Evangelischen Pressedienstes (epd) regen sie zudem „kirchenunabhängige Ansprechstellen für Betroffene und eine externe Ombudsstelle für Betroffene an. Empfohlen wird auch die Einführung einer umfassenden, verbindlichen Aktendokumentation und Statistik. Auch eine Personalaktenanalyse sei unabdingbar für eine transparente Aufarbeitung.“
Die mit der Missbrauchsaufarbeitung und -prävention zusammenhängenden Vorschläge und Anträge für die EKD-Synode werden im Vorfeld von dem sogenannten „Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt“ (BeFo) von Betroffenenvertreter*innen und kirchlichen Vertreter*innen gemeinsam erarbeitet. Welche Maßnahmen bislang konkret vorgeschlagen und umgesetzt werden sollen, zeigt diese Übersicht.
Die komplette, gut 870 Seiten starke ForuM-Studie sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse kann unter https://www.forum-studie.de/ heruntergeladen werden. Reaktionen der EKD und inzwischen angestoßene Aufarbeitungsprozesse sind gebündelt unter https://www.ekd.de/aufarbeitungsstudie-forum-82255.htm zu finden. Betroffene von Missbrauch oder sexualisierter Gewalt, die keinen Kontakt zur Kirche wünschen, können sich mit ihren Anliegen an eine unabhängige Anlaufstelle wenden: https://www.anlaufstelle.help/