Mit Inklusionsboxen Kindern Vorurteile nehmen

von Judith Kubitscheck

Sonntag, 05.02.2023

eine Barbie-Puppe sitzt im Rollstuhl
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Zum Inhalt der Inklusionsboxen, die Verena Niethammer an KiTas und Schulen verleiht, gehört u.a. auch „Annika“, eine Barbie-Puppe im Rollstuhl. (Foto: Pixabay)

Am 3. Mai 2008 trat das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention) in Kraft. Seit dem 26. März 2009 ist sie auch in Deutschland verbindlich und sorgt für umfassende Veränderungen.

Das hat vor allem mit einem Perspektivwechsel zu tun. In vielen der 182 Unterzeichner-Staaten galt gegenüber Menschen mit einer Behinderung lange Jahre das sogenannte Fürsorgeprinzip: Staatliche wie gesellschaftliche Kräfte waren darauf ausgerichtet, behinderte Menschen bestmöglich zu unterstützen und sie – wo möglich - in bestehende Strukturen zu integrieren. Dieses Prinzip sei inzwischen vom Gedanken der Inklusion abgelöst worden, erklärt Kirchenrat Dr. Stefan Drubel, stellvertretender Abteilungsleiter für Erziehung und Bildung im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland.

„Inklusion ist sehr viel umfassender als Integration“, sagt Drubel: „Integration bedeutet, dass wir Menschen in ein vorhandenes System hineinholen, man macht sozusagen für sie ein Türchen auf und sagt: «Hier könnt ihr reinkommen.» Inklusion bedeutet, dass wir ein System so gestalten, dass es allen gerecht wird.“

Was das konkret bedeutet, erklärt Drubel an einem Beispiel. In seiner Zeit als Gemeindepfarrer Ende der 1990er Jahre hatte er ganz spontan und kurzfristig ein Mädchen im Rollstuhl mit auf eine Jugendfreizeit genommen. Unterkunft, Ausflüge – alles sei da schon gebucht gewesen, trotzdem habe er das Mädchen mitgenommen, obwohl nichts wirklich rollstuhlgerecht oder barrierefrei gewesen sei. Aus dieser Erfahrung habe er gelernt und sich für die nächste Freizeit von mehreren Rollstuhlfahrern beraten lassen: „Wie können wir so eine Freizeit von vornherein so planen, dass ihr immer mitkommen könnt? Was braucht ihr? Ja, und da ist dann so etwas entstanden wie die Idee von einer «inklusiven Freizeit»“.

Beim Stichwort „Inklusion“ dürfe man nicht nur an Menschen mit einer Behinderung denken, meint Dr. Stefan Drubel: „Bei Inklusion geht es grundsätzlich um alle Menschen, die in einer Kirchengemeinde, einem Stadtteil, einer Stadt oder auch in einem Land leben. Die Menschen sind ja ganz verschieden: ihre Herkunft, ihr Glaube, ihr Alter, ihre sexuelle Orientierung, ihre Leistungsfähigkeit, ihre Beweglichkeit und vieles mehr.“

Aus Sicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales bedeutet Inklusion, „Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen, Chancengleichheit in der Bildung und in der Arbeitswelt herzustellen und allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit auf einen selbstbestimmten Platz in einer barrierefreien Gesellschaft zu geben.“ Dazu wurde ein nationaler Aktionsplan entwickelt, um die UN-Behindertenrechtskonvention (PDF-Download hier) deutschlandweit und auf breiter Basis umzusetzen. Mehr dazu unter https://www.gemeinsam-einfach-machen.de

Laut Statistischem Bundesamt lebten im Juni 2022 allein in Deutschland rund 7,8 Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 9,4%, oder anders ausgedrückt: Fast jeder 10. Mensch in Deutschland ist behindert. Als schwerbehindert gelten Personen, denen die Versorgungsämter einen Behinderungsgrad von mindestens 50 zuerkannt sowie einen gültigen Ausweis ausgehändigt haben. In Deutschland waren 50,3 % der Schwerbehinderten Männer, 49,7 % waren Frauen.

Zum Thema Inklusion hat die Evangelische Kirche in Deutschland Ende Januar 2015 eine sogenannte Orientierungshilfe herausgegeben. Unter dem Titel "Es ist normal, verschieden zu sein" reflektiert die knapp 200 Seiten starke Broschüre nach Angaben der EKD "die sozial- und bildungspolitischen Herausforderungen durch die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und deren Konsequenzen besonders für die evangelische Kirche und ihre Diakonie." Die Orientierungshilfe kann für 7,99 Euro über den Buchhandel bezogen werden (Gütersloher Verlagshaus,ISBN 978-3-579-05975-4), außerdem steht sie unter www.ekd.de/inklusion-leben auch zum Herunterladen bereit.

Einem Großteil der weltweit rund eine Milliarde Menschen mit Behinderungen hat die UN-Behindertenrechtskonvention erstmalig einen Zugang zu verbrieften Rechten verschafft. Die Vereinten Nationen schätzen, dass nur etwa 40 Staaten, zumeist Industrienationen, eine nationale behindertenpolitische Gesetzgebung haben. Zwei Drittel Menschen mit Behinderungen leben in Entwicklungsländern.

Im Beitrag haben wir Verena Niethammer vorgestellt. Sie ist 1. Vorsitzende des Vereins „Hölder – Initiative für Kultur und Inklusion e.V.“ mit Sitz in der baden-württembergischen Stadt Lauffen, dem Geburtsort des Dichters Friedrich Hölderlin. Der Verein „setzt sich für Inklusion – im weiten Sinne – als Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft ein. Im Fokus stehen Menschen mit Behinderungen, pflegende Angehörige und Menschen mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung. Mit diesen Personengruppen haben die meisten unserer Mitglieder persönliche und familiäre Verbindungen oder ehrenamtlich bzw. beruflich mit ihnen zu tun.“ Das gilt auch für Verena Niethammer. Sie ist Mutter eines behinderten Sohnes und verschickt deutschlandweit sogenannte „Inklusionsboxen“. Die Boxen, gefüllt mit Spielzeug und Büchern, werden z.B. an KiTas und Grundschulen ausgeliehen und dort für die Aufklärungs- und Inklusionsarbeit eingesetzt. Mehr unter http://hoelder-initiative.de/?p=161

Sonntag, 05.02.2023