Mitternachtsmission: Kirche im Rotlichtviertel

von Markus Möhl

Sonntag, 18.08.2024

die Reeperbahn in Hamburg
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Die Reeperbahn gehört zum Hamburger Rotlichtviertel, wo es mit der Herbertstraße eine eigene Bordellstraße gibt. Auch Dortmund hat mit der Linienstraße eine Bordellmeile. (Foto: Pixabay)

Die Dortmunder Mitternachtsmission ist eine der ältesten sozialen Einrichtungen Deutschlands, die sich seit über einem Jahrhundert für Frauen in Not, insbesondere für aktive und ehemalige Prostituierte sowie Opfer von Menschenhandel einsetzt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten sich Mitternachtsmissionen in mehreren deutschen Städten im Rahmen der Inneren Mission der Diakonie. Tätigkeitsschwerpunkt war die „Gefährdetenfürsorge“, insbesondere bei Prostituierten. Die Ziele und die Arbeitsweisen ähnelten sich: Es ging um ”Bewahrung und Rettung der sittlich gefährdeten und gefallenen Söhne und Töchter unseres Volkes, Hebung der Sittlichkeit und ethische Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten”. Der Name der Mitternachtsmission orientierte sich an der „midnight mission“ der britischen Feministin Josephine Butler, die sich für die Rechte Prostituierter einsetzte. Die Vereinsgründung der Dortmunder Mitternachtsmission erfolgte am 3. März 1918 im Haus von Pfarrer Donsbach, der vier Wochen später auch zum ersten Vorstand des Vereins gewählt wurde.

Auch in Hamburg und Altona, Berlin, Dessau, Dresden, Düsseldorf, Hannover, Königsberg und anderen größeren Städten des Deutschen Reiches wurden Mitternachtsmissionen ins Leben gerufen; Dortmund gehört nach Berlin (gegründet 1906) zu den früheren Gründungen, die meisten anderen folgten im Verlauf der 1920er Jahre. In dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg herrschten in Deutschland große soziale und wirtschaftliche Not. Viele Frauen und Mädchen, deren Männer bzw. Väter auf dem Schlachtfeld geblieben waren, sahen sich deshalb gezwungen, in die Prostitution zu gehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Doch schon 1915 erkannte Hermann Flume, Pfarrer an der Dortmunder Pauluskirche: ”Die Prostitution ist neben Tuberkulose und Alkoholismus eines der schwierigsten Probleme, es restlos und zur allgemeinen Zufriedenheit zu lösen, wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Es kommen bei ihm nämlich nicht nur Fragen physisch-psychischer Art, sondern auch solche sozialer, wirtschaftlicher Natur in Betracht.” Prostitution, so Flume weiter, sei vor allem ein Problem des Großstadtlebens und gleich in doppelter Hinsicht gefährlich: nicht nur als ”Trägerin venerischen Giftes”, sondern auch durch die Nähe zur Verbrecherwelt. All das verursache ”in sittlicher Beziehung unermeßlichen Schaden”, und: ”Am abstoßendsten wirkt dabei das Zuhältertum mit seinem Ausbeutungssystem.”

Die damaligen Maßnahmen der Polizei sah Pfarrer Flume als völlig unzureichend bzw. nicht zielführend an: „”In den meisten Großstädten, so auch in Dortmund, haben es die Polizeiverwaltungen für zweckmäßig angesehen, die sich prostituierenden Personen der Zwangskontrolle zu unterwerfen und sie in Dirnenlisten einzutragen. (...) Aus dem Kontrollsystem ergibt sich die Lokalisierung und Kasernierung der Prostitution beinahe mit zwingender Notwendigkeit. (...) In Dortmund besitzen wir jetzt sogar zwei organisierte Dirnenstraßen, von denen die eine an der Peripherie, die andere in der Nähe des Hauptbahnhofes liegt.”

Im Laufe der Jahre und besonders nach dem Ende des 2. Weltkriegs erweiterte und veränderte sich das Aufgabenfeld der Mitternachtsmission kontinuierlich. Während sie in den 1950er-Jahren noch eine Anerkennung der Prostitution als Beruf ablehnte, wandelte sich der Charakter ihrer Tätigkeit in den folgenden Jahrzehnten hin zur professionellen Sozialarbeit mit dem Ziel, der Klientel Beratung, Recht und Hilfe zu bieten. Später kamen noch die Betreuung von Opfern des Menschenhandels und die Unterstützung von inhaftierten Frauen hinzu. Die Mitternachtsmission entwickelte sich zu einer festen Institution in Dortmund und weit darüber hinaus. Pro Jahr nehmen etwa 1.000 Frauen (und auch ein paar Männer) die Hilfen der Mitternachtsmission in Anspruch. Deren Hauptaufgaben lassen sich heute in mehrere Bereiche gliedern:

1. Beratung und Unterstützung von Prostituierten: Dazu gehören gesundheitliche Aufklärung, psychologische Beratung, Hilfe bei rechtlichen Fragen und die Unterstützung beim Ausstieg aus der Prostitution. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Mission sind oft vor Ort in den Rotlichtvierteln unterwegs, um den Kontakt zu den Frauen zu suchen und ihnen direkt zu helfen.

2. Bekämpfung des Menschenhandels: Die Mitternachtsmission arbeitet hier eng mit der Polizei und anderen Behörden zusammen, um Opfer von Menschenhandel zu identifizieren und ihnen Schutz und Unterstützung zu bieten. Dies umfasst neben der akuten Hilfe auch langfristige Maßnahmen zur Reintegration in die Gesellschaft.

3. Präventionsarbeit und Aufklärung: Durch Aufklärungskampagnen und Bildungsarbeit in Schulen und anderen Einrichtungen soll das Bewusstsein für die Problematik der Prostitution und des Menschenhandels geschärft und präventive Maßnahmen gefördert werden. Zur Arbeit gehören auch Themen wie AIDS und HIV.

Eigenen Angaben zufolge ist die Beratungsstelle der Dortmunder Mitternachtsmission in der Dudenstraße 2-4 von montags bis freitags ab 10 Uhr besetzt. Weiter heißt es: „Zu anderen Zeiten können Nachrichten auf einem Anrufbeantworter hinterlassen werden. In der Mitternachtsmission sind z.Zt. 14 Mitarbeiterinnen beschäftigt. (…) Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der aufsuchenden Sozialarbeit. (…) Die Mitarbeiterinnen vereinbaren Termine mit Klientinnen an deren Arbeitsplätzen, in der Beratungsstelle, in Cafés, Restaurants oder suchen sie zu Hause auf. Die Beratungsarbeit der Mitternachtsmission unterliegt einer »Geh-Struktur«. Ziel der Sozialarbeit ist die Befähigung der Klientinnen, sich aus emotionalen und finanziellen Abhängigkeiten zu lösen und ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben zu führen.“

In einem historischen Abriss über die Geschichte der Dortmunder Mitternachtsmission schrieb Reinhard van Spankeren von der Diakonie RWL im Jahr 2017: „Selbstverständnis und Arbeitsweise der Mitternachtsmission haben sich in vielem verändert. (…) Aus Rettungsdienst und Fürsorge ist moderne Sozialarbeit geworden, eine Sozialarbeit, die »ganzheitlich« und »anwaltschaftlich« ihrer Klientel Recht und Hilfe verschaffen will. Die seelsorgerlichen und missionarischen Prämissen sind zurückgetreten zugunsten von Beratung und Rechtsdurchsetzung - wobei um Ausrichtung und Arbeitsweise in diesem Hilfebereich durchaus gestritten wird. (…) Auf jeden Fall aber ist die Mitternachtsmission ein markantes Arbeitsgebiet mit ganz eigenem Profil, einer beeindruckenden Zusammenarbeit von Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen und einem Engagement für Notleidende, das Maßstäbe setzt.“

Sonntag, 18.08.2024