Reichspogromnacht 1938: Der Antisemitismus lebt
Sonntag, 11.11.2018
In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10.11.1938 brannten überall in Deutschland die Synagogen, wurden jüdische Mitbürger geschlagen, verhaftet, ermordet. 80 Jahre ist das her, aber der Antisemitismus ist leider nicht mit den Nazis untergegangen.
Laut amtlicher Statistik registrierte die Polizei allein im vergangenen Jahr 1.453 antisemitische Straftaten und damit durchschnittlich vier Vergehen pro Tag. Ähnlich hoch waren die Zahlen in 2015 (1.366) und 2016 (1.468). Das Magazin "STERN" schreibt über die Zahlen von 2017: "Der Großteil judenfeindlicher Angriffe – 1377, also fast 95 Prozent – wurde im letzten Jahr von Straftätern aus dem rechten Spektrum begangen. Demgegenüber stehen nur 25 Straftaten – weniger als zwei Prozent – die Islamisten zugeordnet werden. (…) Die Polizei registrierte im vergangenen Jahr 28 Körperverletzungen, 160 Sachbeschädigungen, vier Mal Störung der Totenruhe, 19 Nötigungen oder Bedrohungen und mehr als 200 Propagandadelikte. Mit 900 erfassten Straftaten macht Volksverhetzung allerdings den mit Abstand größten Anteil aller Delikte aus. Da bei weitem nicht alle Straftaten angezeigt werden, könnte die Zahl sogar noch höher liegen."
In ihrem Buch "Schonzeit vorbei" berichtet die Berliner Autorin Juna Grossmann von dem alltäglichen Antisemitismus, den sie persönlich erlebt oder erzählt bekommen hat. Dabei geht es nicht nur um tätliche Angriffe wie die Attacke eines jungen Syrers in Berlin, der im April 2018 zwei Kippa tragende Männer auf offener Straße mit einem Gürtel geschlagen hat. Viel häufiger sind giftige Bemerkungen, die Grossmann als Jüdin schon häufiger begegnet sind.
Auch Hass-Mails mit kaum versteckten Drohungen hat die Autorin schon bekommen: "»Ja pass mal auf, wenn du raus gehst. (…) Da könnte ja mal was passieren. Du könntest ja mal einen Unfall haben.« Solche Sachen - das habe ich auch gelernt inzwischen – sind nicht strafrechtsrelevant, weil es ja Konjunktiv ist." Generell erlebt Juna Grossmann, dass der Hass seit einigen Jahren nicht nur hinten rum angedeutet ist, sondern sich wortwörtlich unverschämt zeigt: "Ich habe den Eindruck, es ist wesentlich öffentlicher geworden. Die Leute schämen sich nicht mehr, irgendwas zu sagen, sondern sie machen es einfach, und sie fühlen sich im Recht, weil sie in irgendeinem Umfeld sind, wo sie Bestätigung erhalten und finden das ganz und gar richtig, dass man so mit anderen Menschen umgeht."
Dass aus antisemitischen Gedanken und Worten irgendwann auch Taten folgen, hat nicht nur die Reichspogromnacht von 1938 gezeigt. Dem Besitzer eines jüdischen Restaurants in Chemnitz wurde vor einigen Wochen ein abgetrennter Schweinekopf vor die Tür gelegt. Nach massiven Drohungen musste ein koscherer Supermarkt in Berlin schließen. Und erst Ende Oktober 2018 stürmte ein Mann in Pittsburgh (USA) mit dem Ruf "Alle Juden müssen sterben!" in eine Synagoge und erschoss elf Menschen, vier weitere wurden verletzt. Laut den Ermittlungsbehörden handelt es sich bei dem Täter um einen überzeugten Antisemiten, der seine Tat im Internet ankündigte.
Narrative wie "Die Juden sind an allem Schuld" oder "Die Juden bestimmen doch alles" halten sich seit Jahrhunderten und gehören damit zu den wohl ältesten Verschwörungstheorien der Welt. Schon im Mittelalter wurden Juden für Hungersnöte oder Krankheiten verantwortlich gemacht. So zum Beispiel in Köln, wo es Mitte des 14. Jahrhunderts im Herzen der Stadt ein eigenes jüdisches Viertel mit etwa 1.000 Bewohnern gab.
Als 1349 rund um Köln eine Pestepidemie wütet, verbreitet sich das Gerücht, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Obwohl die jüdischen Bewohner Kölns unter dem Schutz von Stadt, Erzbischof und König stehen, stürmt ein aufgeheizter Mob am 23. August 1349 das Viertel, macht es dem Erdboden gleich und tötet fast alle Bewohner. Im Jahr 1424 werden die Juden für "ewige Zeiten" aus der Stadt gewiesen. Erst im 19. Jahrhundert wird es danach wieder Juden in Köln geben. Bis 1933 die Nazis an die Macht kommen und Hetze, Drangsalierung und Verfolgung von Neuem beginnen.